Hg. Karl-Josef Pazzini, Marcus Coelen, Judith Kasper, Mai Wegener


RISS – AAAAAAAAntisemitismus asemantisch

RISS Zeitschrift für Psychoanalyse Bd. 98


 

https://www.risszeitschriftfuerpsychoanalyse.org/kopie-von-riss-97

Die entscheidende Schwierigkeit, »über Antisemitismus« zu schreiben, Antisemitismus anzusprechen, liegt darin, dass es keine Position von außen gibt, von der her gesprochen werden könnte. Dies zu verkennen, scheint eines der Hauptprobleme in vielen Initiativen zu sein (deren ziviles Engagement und gute Absichten nicht infrage gestellt seien), die Antisemitismus als sprachliche und physische Gewalt im (nicht nur) bundesdeutschen Alltag anzeigen. In diesem Zusammenhang wird oft das Bedürfnis laut, zu definieren, was als antisemitisch zu gelten habe und was nicht, und man ist bestrebt, Klarheit zu schaffen. Definitionen, die dieses Bedürfnis stillen wollen, bringen aber weitere Probleme mit sich. Denn wie etwas adressieren, das uns als zentrales und zugleich extrem dezentriertes, disseminiertes, jahrhundertealtes und brandaktuelles Problem heimsucht: antisemitische Gewalt, im Versuch des Eingedenkens, dass wir selbst und auch noch unser Versuch, den Antisemitismus endlich eindeutig in den Griff zu kriegen, Teil dieses Problems sind.

Das »Halle-Dossier«, das den Auftakt des Heftes bildet, weil der Anschlag auf die Synagoge in Halle an Jom Kippur, dem 9. Oktober 2019, der Auslöser für unsere begonnene Arbeit war, ist erst gegen Ende der Konzeption des vorliegenden Heftes entstanden. Wir haben eingeladen das Dokument aus Mitschriften des Prozesses gegen den Attentäter, das der Verein »democ. Zentrum Demokratischer Widerspruch e. V.« angefertigt angefertigt hat zu kommentieren. 

Es kamen in der Redaktion viele Anfänge des Nachdenkens zusammen. Es blieb die Frage, was spezifisch Psychoanalytisches zu sagen sei, auch wenn vieles schon seit Jahrzehnten immer wieder geschrieben worden war. Etwas ließ uns unbefriedigt, wir ahnten mehr, als wir sagen konnten, dass es etwas zu explizieren gäbe, das weniger von identifizierbaren antisemitischen Inhalten ausging, sondern von Unbewusstem, das nicht direkt identifizierbar ist.

Es gibt im Feld von Geschichte, Politik, Traum, Dichtung und Kunst bisweilen Konstellationen, in denen einiges zusammenkommt, was es dann ermöglicht, dass unerwartet ein Standpunkt, ein unerwarteter Standpunkt umrissen wird. Der Titel dieser Ausgabe des RISS »AAAAAAAAntisemitismus – Asemantisch« schreibt sich von einem solchen her. Die A-Buchstaben-Laut-Graphem-Phonem-Reihe des ehemaligen Mitglieds der Resistenza, des späteren Künstlers Gastone Novelli trägt sich als stummer, stummlauter Schrei, verzerrend – als Kakofonie und Interferenz – in unser Sprechen und Schreiben »über Antisemitismus« ein.

Heftredaktion: Judith Kasper Karl-Josef Pazzini Mai Wegener

Fotografien von Walter Vorjohann / Czollek, Lapidot, Obermüller, Simmenauer, Kasper, Karl, Brumlik, Krampert, Pazzini, Griesheimer, Eine vielstimmige Kommentierung der Mitschriften des Halle-Prozesses / Judith Kasper, Zu den Fotografien von Walter Vorjohann / Karl-Josef Pazzini, Transmission des »Antisemitismus« / Karl-Josef Pazzini, Woher kommen sie denn? Zwei Fragmente aus Analysen / Eva Maria Jobst, Zu Anne-Lise Stern: Le savoir-déporté / Früher mal ein deutsches Kind / Lena Hirzel, Anne-Lise Stern – das »Seminar«, eine Bezeugung / Judith Kasper, Sprachwunden, Verdachtshermeneutik, semantische Fallen – eine lose Sammlung / Laurence Bataille, Es fehlt mir an Sein / Mai Wegener, Zu Laurence Bataille: Es fehlt mir an Sein / Mona Körte, Tirol / Jean-Claude Milner, Lacan der Jude / Karl-Josef Pazzini, Zu Delphine Horvilleur: Überlegungen zur Frage des Antisemitismus / Mai Wegener, Zu Louis Kaplan: Vom jüdischen Witz zum Judenwitz

Rezensionen: Christfried Tögel, Urban Zerfaß, (Hg.), Sigmund-Freud-Gesamtausgabe in 23 Bänden, Bd. 21 (Karl-Josef Pazzini) / Antoine Mooij, Lacan and Cassirer – An Essay on Symbolisation (Artur Reginald Boelderl) / Peter Widmer, »Jeder geht auf den Tod des Anderen« – Ein Kurs mit Materialien (Bernhard Schwaiger)

Begleitend dazu erscheint der RISS+ #07

RISS – AAAAAAAAntisemitismus asemantisch

RISS Zeitschrift für Psychoanalyse Bd. 98

Hg. Karl-Josef Pazzini, Marcus Coelen, Judith Kasper, Mai Wegener

22,00 Euro

Sprache: Deutsch

Design: Christoph Steinegger

ISBN: 978-3-86485-292-3

Hamburg 2023


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